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17.09.2011 Hamburg - Jürgen Kerth
Bericht + Foto: Jens Bruske
Weißt Du, was Blues wirklich ist?
Ein kleines Loblied auf das REMISE-Konzert von Jürgen Kerth & Band am 17.09.2011 am Siemers’schen Hof in HH-Bergstedt
Getreu des schönen Karl Valentin-Mottos „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, fühlte sich am 17.09.11 in der REMISE
des Siemers’schen Hofes in Hamburg-Bergstedt der BLUES ausgesprochen heimisch:
Der legendäre Gitarren-Artist Jürgen Kerth aus Erfurt/Thüringen gab sich die Ehre und konzertierte mit seiner großartigen
Band weitab des Mainstreams am vermeintlichen Arsch der (Hamburger) Welt.
Schon die Tatsache, dass es den Organisatoren gelungen war, einen solchen Hochkaräter auf ihre kleine Bühne zu
locken, hatte im Vorfeld des Ereignisses für ungläubiges Staunen und gleichermaßen Ignoranz bei Kennern wie
Berufsskeptikern gesorgt.
Wer, bitte schön, hatte bis dato je von Jürgen Kerth gehört?
Wer, hier am Ort der Pfeffersäcke, wo sich noch heute fast jeder so gern mit der Entdeckung der Beatles in seiner Heimatstadt
schmückt, kannte denn Musiker aus der ehemaligen Ostzone (J.K.), und wußte um deren Qualität?
Diesbezügliche Nachfragen verdeutlichten einmal mehr und immer wieder die nach wie vor sehr real existierende Mauer in den
Köpfen der Menschen unserer angeblich so weltoffenen Stadt.
Das Tor zur Welt öffnete sich für den 1948 in Erfurt geborenen Jürgen Kerth erstmals ganz realiter nach dem Zusammenbruch
seines Heimatstaates DDR. Hatte er doch zuvor seit seiner Jugend nur davon träumen können, so war es ihm jetzt
endlich möglich, frei und unbehelligt dorthin zu gehen, wo er die eigenen musikalischen Wurzeln spürte: in die USA,
die Heimat jener ursprünglichen und ungeheuren musikalischen Vielfalt, die bislang nur über den Äther in sein waches
Bewußtsein dringen durfte. Druck und Enge hinter sich lassend, nutzte der Autodidakt Kerth nach der sogenannten Wende
mehr als zwölf Jahre ausgiebig die Möglichkeit, das Land seiner musikalischen Träume und Verheißungen kennenzulernen.
Dass dies mehr als gut gelang, belegen eine US-Tour mit BB King und die gebliebenen Freundschaften mit vielen
gleichgesinnten Menschen und Musikern jenseits des großen Ozeans. Die brutal-undemokratische Wahl George W. Bush’s
zum Präsidenten nahm der Non-Konformist J.Kerth dann allerdings konsequent zum Anlaß einer bis heute andauernden
Amerika-Abstinenz. Und: Seine Heimat endgültig zu verlassen, kam für den Künstler schon zu DDR-Zeiten nie in Frage –
viel zu verbunden war er nach eigener Aussage mit den dortigen Büschen und Bäumen, schlicht: mit Allem.
Ein Stück seines Herzens präsentierte und gab der Große Unbekannte (Lebensmotto : Wehret der Anmaßung!) dann mit
seinem gloriosen, virtuosen und gleichsam unprätentiösen Wirken über sehr lockere 135 Minuten auf seiner
geliebten MIGMA-Gitarre dem Hamburger Publikum preis. Hatten zuvor lockere Zungen noch gemutmaßt, die musikalischen
Begleiter seien lediglich nette Staffage, um den Meister immer mal wieder aus dem Himmel der Soli-Beglückungen
zurückzuholen, so wurden alle eines noch Besseren belehrt: Kerth is God!
Und Selbiger bleibt natürlich immer für alles offen:
Der kongeniale Sohnemann Stefan Kerth am Bass und auch Drummer Marco Thiermann waren viel mehr als nur
Ergänzungsmusiker, sie nutzten alle freizügig gebotenen Möglichkeiten, das eigene Können frei zu entfalten.
Schier unglaubliche und an gute, alte Allman-Zeiten gemahnende Instrumental-Korrespondenzen und
Interaktionen hauten nicht nur den Zeilenschreiber immer wieder und sehr nachhaltig vom Hocker! Und dazu dann die
kryptischen Texte, die dem ordinären Westler zunächst ungewohnt und kaum zugänglich erscheinen: Da swingt und
bluest und rock’n rollt es sublim und subversiv, bis sich (fast) jeder ertappt an die eigene Nase fassen kann…
Spätestens nach diesem in jeder Hinsicht erstaunlichen REMISE-Konzert wußte auch der allerletzte, hochnäsige Besserwessi,
was die musikalische Stunde geschlagen hatte. Großmeister
Kerth zog alle Register seines exorbitant hohen Könnens. Sentimentale und fröhliche, lebensbejahende, sowie sehnsüchtige und
geradezu süchtig machende Klänge berauschten ein immer enthusiastischer werdendes Publikum.
Kerth und seine Mannen leben und lieben ihre Musik, und das spürt und hört man jederzeit. Sympathisch unprätentiös,
aber dennoch mit wuchtiger und geballter Bühnenpräsenz spielten die Musiker sich in die Herzen ihrer Zuhörer.
Dass sie es bei Bedarf auch mal so richtig krachen lassen können, stellten die Künstler bei ihren Ausflügen in die Welt des
Rock’n Roll deutlich unter Beweis.
Gleichwohl blieb die Lautstärke (nach leichten anfänglichen Technikproblemen) immer im sympathisch moderaten Bereich,
sodass auch empfindlichere Ohren voll auf ihre Kosten kamen und niemand einen Hörschaden zu beklagen hatte.
Wie schon erwähnt, ist Jürgen Kerth bei aller Liebe nicht ausschließlich auf den reinen Blues fixiert. Swing und Soul und
Reggae sind die musikalischen Ingredenzien mit denen Kerth seine Kompositionen immer wieder gern und äußerst
delikat würzt. Dazu kommen dann Versatzstücke und regelmäßig hervorgezauberte Zitate seiner großen Vorbilder aus der
bunten Welt des Blues, die beim Zuhörer freudiges Erstaunen hervorrufen, und die das authentische Gesamtbild nur noch
abrunden.
Ganz egal, ob der „Blues vom Blues“, die wunderbare „Frühlingsmelancholie“, good old Jimis „Red House“, „Martha“,
„Helmut“ oder die vielen, vielen (Insider-) Schmankerl: immer wieder und immer wieder neu und schön ging die höchstqualifizierte
Blues-Post ab.
Manch einer glaubte seinen Ohren nicht zu trauen: War dies eben nicht Peter Green, oder jenes Santana, klang da nicht
etwas sehr deutlich nach John Lee Hooker? Der klanglichen Vielfalt und Farbenfreude waren einfach keine Grenzen gesetzt,
und es waren Jürgen Kerth und seine Band, die diese feinen Töne produzierten und dabei so überzeugend und ihre eigene
Authentizität wahrend, den Anwesenden einen in der Tat unvergesslichen Abend zu bescheren vermochten, von dem so
mancher noch lange, lange zehren kann.
Was bleibt, ist neben dem nachhaltigen Eindruck und Wissen, einen der ganz Großen der gesamt-deutschen Rock- und
Blues-Szene aus nächster Nähe erlebt zu haben, die ungläubige Frage, wieso dieser großartige Mensch und preisgekrönte
Musiker scheinbar ausschließlich im Osten unseres Landes die gebührende Wertschätzung erfährt?
Diesbezüglich befragt, antwortete der Künstler so entwaffnend wie pragmatisch:
“Ganz einfach: Was der Bauer nicht kennt, frißt er eben nicht.“
Und diese bedauerliche Tatsache scheint ihn überhaupt nicht zu stören. Und so ist er wohl wirklich: völlig uneitel und
unehrgeizig und dennoch mit ausreichend Lebenserfahrung, Selbstbewußtsein und einem unerschütterlichen Wissen
um das eigene Können ausgestattet.!
Freigeist Kerth hat die Diktatur unbeugsam überstanden (Repressionen und Auftrittsverbote gehörten zum DDR- Alltag),
er ist durch die ganz harte Schule des Lebens gegangen und hat sich trotz schwerster persönlicher Schicksalsschläge
nicht unterkriegen lassen. Geholfen hat ihm dabei neben dem positiven Heimatgefühl und seiner Familie natürlich
„Die Eine“: seine inzwischen schon recht zerrupft und lädiert aussehende Gitarre aus dem Hause der Musikinstrumenten
Handwerker-Genossenschaft Markneukirchen (MIGMA), die ihn seit mehr als 40 Jahren begleitet, ermutigt und inspiriert.
In Hamburg sagt man nicht nur Tschüß, sondern singt und ruft auch: Junge komm bald wieder!
Und so bleibt neben allen guten Wünschen auch die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.
Wer weiß, vielleicht ja schon im Sommer des kommenden Jahres auf’m Hof, diesmal dann Open Air und
vor größerem Publikum?