Leseprobe aus „Der Ostrock ist tot… Es lebe der Ostrock!“
Mit freundlicher Genehmigung von Frank Flemming
Im Jahr 1993, fast vier Jahre nach dem Fall der Mauer und drei Jahre nach dem
Beitritt des kleinen zum großen Deutschland singt Veronika Fischer eine
Komposition von Franz Bartzsch mit einem Text von Kurt Demmler ein. Sie
heißt Es war ein Land und enthält in ihren 2:04 Minuten inhaltlich und
musikalisch all das, was den so genannten Ostrock ausmacht: Man hört eine
ausgebildete, klare Stimme zu einer von Klavier und Streichern gespielten
Ballade und lauscht einem Text, der das Befinden des größten Teils der
Menschen dieses untergegangenen Landes treffsicher und mit wenigen Worten
schildert:
„Es war ein Land, mein Land
Mir so verwandt
Dass ich weinte, als ich es verlor
Es war ein Land, mein Land
Und war es doch nicht mehr
Als es die Menschen band an sich
Mit Macht und Hinterlist
Ich hab’s geliebt, gehasst, geliebt, gehasst
Doch nie war es mir gleich!
Es war mein Land, kein Land
So schnell wie es verschwand
Von einem Tag zum anderen
Dass kein Mensch es wiederfand
Es war ein Land, gebaut auf Sand
Und einem Traum
Und als das Land verschwand
Blieb nur der Traum, auf dem es stand.“
Auf mich wirken diese Worte wie ein Schlussakkord: die drei Großen des DDR-
Rock - Fischer, Bartzsch und Demmler - setzen ihn.
Schon damals bei seiner Veröffentlichung 1993 und auch jetzt, weitere 28 Jahre
nach Entstehung dieses kleinen Meisterwerkes, stellt sich die Frage, was von
alldem heute noch erinnerungswürdig und bewahrenswert ist.
Viel ist in der Zeit nach der sogenannten Wende über Politik, Planwirtschaft,
Alltagsleben, Recht und Unrecht, Schule, Armee, Erziehung, Überwachung,
Freud und Leid und eben auch über Beat, Rock und Popmusik aus der DDR und
den sogenannten Bruderländern geschrieben worden:
Das „Rocklexikon der DDR“ von Götz Hinze1 listet alle wichtigen Bands,
Interpreten, Texter, Radiosendungen und Begriffe rund um den Ostrock auf.
Birgit und Michael Rauhut haben alle Veröffentlichungen des einzigen
Schallplattenlabels Amiga für den Bereich Rock- und Popmusik von 1964 bis
1990 in Buchform veröffentlicht .2
Im Interviewbuch „Du hast den Farbfilm vergessen“ 3 äußern sich einige der
wichtigsten Vertreter des DDR-Rock mit vielen interessanten Episoden zu
Geschichte, Musikeralltag, Erfolgen und Rückschlägen innerhalb dieser Szene.
Zahlreiche Biografien von bzw. über Renft, Puhdys, Karat, Veronika Fischer,
Cäsar, Reinhard Lakomy, City, Stern-Meißen/Lift/electra als „Sachsendreier“
und Bands aus den sogenannten Bruderländern Ungarn, Polen und Tschechien
sind erschienen.
Nicht zu vergessen ist die von 2004 bis 2017 in zweimonatlichem Abstand
wiedererschiene Zeitschrift „Melodie und Rhythmus“. Sie lieferte zumindest im
Zeitabschnitt bis 2009 beste Informationen zur aktuellen Entwicklung des
Ostrock, Christian Hentschel sei gedankt.
Doch wer will schon ausschließlich über Musik lesen? Musik ist ja eigentlich
zum Hören da. Zum wieder und wieder hören. Das konnte man im Osten bis
1989 nur vom Medium Schallplatte oder von selbst mitgeschnittenen
Tonbandaufnahmen. Als nach der Wende auch CDs in ostdeutschen Haushalten
Einzug hielten, erschien natürlich auch einiges aus dem Bereich Ostrock auf
diversen Samplern bei „Mediamarkt“, „Mc-Donalds", „FF-Dabei“, „Super-Illu"
und anderen als „Beigabe“. Hier wurde meist wahllos zusammengestellt und
Ostrock für eine schnelle Mark regelrecht verramscht. Anspruchsvoller und
interessanter waren dann die ab 1995 erschienen CD-Sampler „Beatkiste“ und
„Notenbude“, sowie die 1998 erschienene und thematisch geordnete 16-CD-Box
„TD64-Story“. 2008 erfolgte dann endlich unter der ordnenden Hand von Jörg
Stempel die Veröffentlichung der CD-Box „Amiga-Hit-Collection“ sowie in
jüngster Zeit die Wiederveröffentlichung diverser Vinyl-Amiga-Alben. Vieles
davon, jedoch nicht alles, kann man sich zudem über Amazon oder iTunes
anhören, bzw. digital oder eben auch „körperlich“ erwerben.
Das ist tröstlich, denn es zeigt, dass es für Ostrock scheinbar noch immer einen
Markt gibt. So ist nach Kurt Demmlers Worten zwar ein Land verschwunden,
dass kein Mensch mehr wiederfindet, die Musik, die in diesem Land entstanden
ist, verschwand jedoch nicht.
Sie wird immer noch durch Auflegen alter Vinyl-Schallplatten gehört,
mehrheitlich jedoch als CD oder Download neu- oder nacherworben.
Was macht eigentlich den Reiz dieses Genres aus? Im internationalen Vergleich,
das heißt den deutschen, englischen oder gar amerikanischen Single-Charts
spielte er keine Rolle 4/5. Abgesehen von ein paar wenigen Platzierungen von
Frank Schöbel mit Wie ein Stern (Platz 37 in 1971), Jürgen Hart mit Sing mei
Sachse, Sing! (Platz 56 in 1980) und Karat mit immerhin 5 Titeln von 1981 bis
1990 findet Musik aus dem Ostblock imWesten Deutschlands kaum statt.
Leider - das sei wiederum grundsätzlich vorangestellt - war nicht alles, was da
aus den Boxen und Kopfhörern in unsere Ohren gelangte, aufrührerisch,
tiefsinnig und originell. Im Gegenteil, das Wenigste davon ist heute noch
hörenswert, hat heute noch Bestand. Und somit kommen wir also zum
Kernpunkt dieses Buches:
Wir wollen herausfinden, welche aus der Fülle der in der Zeit von 1960 bis 1990
bei Rundfunk und Platte produzierten Titel wirklich hörenswert sind.
WelcheWirkung sie bei Erscheinen und heute auf uns hatten bzw. haben.
Welche Erinnerungen sie wecken.
Welche Bedeutung sie für nach uns folgende Generationen haben könnten.
Es geht somit um Fragen wie: Was ist Ostrock? Was brachte er an „guter“ und
„schlechter“ Musik hervor? Soll heißen: Was ist heute noch hörenswert, was
nicht? Welche Rolle spielten die nationalen Hitparaden? Welche Titel waren die
wirklichen Nummer-1-Hits? Welchen Einfluss hatte die Westmusik auf den
Ostrock? Gab es dreiste Plagiate?Wer schrieb die besten Songs?Wer schrieb die
besten Texte?
Lebt der Ostrock auch nach dem Untergang der so genannten sozialistischen
Staatengemeinschaft - gemeinhin Ostblock genannt - als eigenständige
Musikform weiter?
Ich habe lange darüber nachgedacht, welchen Ansatz man zur Beantwortung
oben genannter Fragen wählen sollte. Einen rein wissenschaftlichen sicher nicht.
Dafür sind die mit dem notwendigen kulturhistorischen und philosophischen
Wissen ausgestatteten Kritiker und Musikwissenschaftler zuständig. Stattdessen
will ich versuchen, mit Hilfe der eingangs erwähnten Literatur, vor allem aber
aus eigenem Erleben als Hörer, Fan und aktiver Rockmusiker und Texter oben
genannte Fragen kritisch, jedoch objektiv zu beantworten.
1970 –War da schon was?
Niemen aus Polen und Omega aus Ungarn haben es uns also vorgemacht:
Rockmusik in der Muttersprache ist machbar und kommt an! Es muss also nicht
unbedingt in Englisch gesungen werden.
Dies bewiesen Omega mit ihrem 1970 erschienen Folgealbum Auf der
nächtlichen Landstraße erneut. Wenigstens vier Titel davon sind auch heute
noch hörenswert:
− Auf der nächtlichen Landstraße (Az Ejszakai Orszagüton), platziert in der
„Beatkiste" 1970,
− Oh Barbarella, platziert in der „Beatkiste“ 1971,
− Nur ein Wort (Van Egy Szo), platziert in der „Beatkiste" 1971 und
− Sie ruft alle Tage herbei platziert in der „Beatkiste" 1972.
Auch „im Untergrund“, d.h. auf den Tanzsälen der DDR darf wieder gerockt
werden. Belege hierfür sind die Neugründung von Bands wie der Klaus-Renft-
Combo aus Leipzig (1968), Joco-Dev (1967) und den Puhdys (1969) aus Berlin,
dem Dresden-Sextett (1969) und electra (1968) aus Dresden oder den Nautics
(1969) aus Erfurt.
Einen authentischen Zustandsbericht zum Live-Betrieb dieser Zeit liefert uns
hierzu Stefan Trepte: „Die Leute, das Publikum, das war ein ganz anderes als
heute. Die waren mit dieser Szene verbunden, die waren zufällig keine
Musikanten geworden, aber die waren wie eine Familie, wie ein Herz und eine
Seele, was man heute nur bei ganz großen, gelungenen Konzerten noch findet.
Du konntest in jeden Saal kommen, das war ein herrliches familiäres Gefühl
zwischen Publikum und dir als Musiker – du hast dich ja überhaupt noch nicht
getraut, so zu nennen. Du warst eben einfach in ´ner kleinen Band und hast
Musik gemacht, und hast den Leuten eigentlich das, was sie gerne selbst hätten
machen wollen, mehr schlecht als recht, irgendwie dargeboten. Und das trug zu
einem unheimlichen Selbstbewusstsein bei. Du hattest riesigen Erfolg – ich habe
dort Säle erlebt da haben wirklich Hunderte voller ekstatischer Begeisterung
gerast, voller Glückseligkeit, möchte ich mal sagen, aber ehrlich! Da war an
hervorragenden Sound oder exzellente musikalische Leistung oder Qualität noch
gar nicht zu denken. Das war nicht etwa, weil sie nun hingekommen sind und
sich abreagieren mussten – die Zeit war so, das war das, was die Leute
gebraucht haben zu der Zeit und das ist gekommen.“
Die Produzentin Luise Mirsch berichtet aus diesen Tagen über die Talentsuche:
„Wir organisierten in den Sendesälen oder den Kulturhäusern sogenannte
Vorspiele und dadurch stießen wir eben auf die ersten Gruppen, das war z.B. in
Greifswald das Baltic-Quintett mit Wolfgang Ziegler an der Spitze, in Weimar
hörten wir die Nautics, später Kerth und Bayon und in Dresden hörten wir das
Dresden-Sextett. Davon kriegte wiederum electra Wind. Und Modern-Soul, das
war - glaube ich - schon 1968/1969, hatten sogar schon eigene Lieder: Unser
Haus und Unsere Stadt zum Beispiel, das wurde dann bei uns auch produziert.“
Sogar das Fernsehen der DDR beteiligt sich mit insgesamt acht - von Ende 1969
bis Mitte 1972 in unregelmäßigen Abständen - ausgestrahlten Sendungen unter
dem Titel „Die Notenbank“ an der Popularisierung deutschsprachiger
Rockmusik. Initiator ist der bereits 1964 mit einem Film über Achim Mentzels
Diana-Show-Quartett in Erscheinung getretene Bernd Maywald.
Ende 1969, Anfang 1970 steigt die Gesangs-Studentin Veronika Fischer bei der
Tanzband Fred-Herfter-Combo aus und bei Stern-Combo-Meißen ein. Neben
Ein Tag in der Stadt werden noch weitere, jedoch nie veröffentliche Titel
produziert. Vroni wird 1971 wiederum von Panta Rhei abgeworben.
Leider bekommt das dafür zuständige Schallplattenlabel Amiga von dieser
„Untergrundbewegung“ kaum etwas mit. Die veröffentlichen zwar je zwei
Singles der polnischen Band Skalden und von den Roten Gitarren (plus LP),
sowie eine weitere LP von Thomas Natschinski und Theo Schuhmann; wirklich
Bemerkenswertes ist allerdings nicht dabei. Einzig auf der 1970 produzierten
Horst-Krüger-LP sind zwei - wenn auch schlagerhafte - interessante Titel: Wirst
du gehen und Hast du vielleicht geweint.
Was Amiga nicht packte, versuchte also der Rundfunk mit der Sendung „Franks
Beatkiste“, einer nationalen wöchentlichen Hitparade, moderiert von Frank
Schöbel und einer groß angelegten republikweiten Talentsuche auszugleichen:
Unter der Leitung der Musikproduzentin Luise Mirsch durften Amateur-Bands
ihre eigenen Titel nach vorheriger Auswahl in den Studios der 14 Bezirke
produzieren. Neben musikalischer Originalität und Beherrschung der
Instrumente machte man allerdings deutsche Texte zur Bedingung, was vielen
Bands zunächst zuwider war. Eigentlich - so die landläufige Meinung - ging
Beatmusik in Deutsch gar nicht! Dass es dann doch ging, beweisen die vielen
von Gerulf Pannach, Kurt Demmler, Wolfgang Tilgner, Ingeborg Branoner, Jan
Witte, Bernd Maywald, Joachim Krause und anderer geschriebenen Texte für
Bands in den 1970er Jahren.
Hierzu nochmals Luise Mirsch: „… im Vorfeld gab es schon Demobänder, die
wurden gehört und dann wurde über die Komposition, über den Text usw.
geredet.
An und für sich bemühten sich auch die Tonmeister, die Soundwünsche der
Künstler oder der Rocker zu erfüllen, weil sie instinktiv fühlten, dass sich die
Musiker umhörten, genau Bescheid wussten, die internationalen Platten
hatten… Da gab’s nicht so eine Rechthaberei… Und eigentlich haben die
Tonmeister auch durch die Rocker viel gelernt, genau wie wir Produzenten. Da
wir alle noch am Anfang standen, war das eine gute Teamarbeit. Es ging darum,
mit unseren Mitteln das Bestmögliche aus der Sache zu machen.“ 3„…wir
Rockleute nutzten eigentlich die Nächte. Das ging dann nachts um zehn los und
dauerte bis zum nächsten Morgen sechs Uhr früh. Wir arbeiteten nachts und am
Wochenende, praktisch immer dann, wenn die Musiker aus den anderen
Bereichen (Tanzorchester, Sinfonieorchester, Rundfunksender) in den Studios
nichts zu tun hatten.“
Auszug Kapitel 12
Ostrock im Radio
Wie sah also die Sendelandschaft bzw. das Sendeangebot der DDR-Sender in
den 1970er Jahren für Jugendliche bzw. Rockmusik interessierte Bürger aus?
Sieht man von einer ab dem 01.12.1961 immer freitags gesendeten einstündigen
Sendung namens „Abend der Jugend“ bei Radio DDR ab, gab es erst während
des Deutschlandtreffens im Mai 1964 - bzw. am 29.06.1964 erstmals
ausgestrahlt - eine regelmäßige Jugendsendung: das „Jugendstudio DT 64“ des
Berliner Rundfunks, wochentags von 16 bis 19 Uhr. Diese wurde jedoch gleich
Ende 1965 musikalisch „von oben“ entschärft. Erst ab 1970 lief dann dort
wieder verstärkt Beatmusik. Mit der Umbenennung des „Deutschlandsenders“ in
„Stimme der DDR“ im November 1971 wurde auch dessen Sendeprofil
jugendlicher. So konnte man Anfang der 1970er Jahre wochentags von 16 bis 19
Uhr „Jugendstudio DT 64“ auf Berliner Rundfunk hören, danach auf Stimme der
DDR umschalten und von 19.12 Uhr bis 20.30 Montag, Mittwoch und Freitag
„Hallo - Das Jugendjournal“ hören. Beide Sendungen waren jedoch eher
politisch ausgerichtet und nicht mitschneidefreundlich. Reine Musiksendungen
und somit mitschneidefreundlich waren auf Stimme der DDR zur gleichen
Sendezeit jeweils dienstags „Die Notenbude“ und donnerstags „Die Beatkiste“.
1972 kam jeweils dienstags um 18 Uhr das „DT-Metronom“ als
mitschneidefreundliche dritte nationaleWertungssendung hinzu.
Die einzige zeitliche Überschneidung von relevanten Radiosendungen ergab
sich donnerstags: während die „Beatkiste" lief, konnte man ab 20 Uhr auf Radio
DDR I auch die „Musikalische Luftfracht“ hören.
Samstags wurde „Hallo - Das Jugend-Journal“ von 14 bis 16 Uhr ausgestrahlt.
Danach lief auf Radio DDR I die bereits erwähnte zweite Wertungssendung
„Tipp-Parade“ und um 19.12 Uhr konnte man dann auf Stimme der DDR bei
„Vom Band - fürs Band“ perfekt mitschneiden. Sieht man von „Hallo – Das
Jugendjournal“ ab, welches sonntags zu nachtschlafender Zeit von 9 bis 11 Uhr
lief, war in den 1970ern an diesem Wochentag „Ruhe im Karton“.
Wahrscheinlich dachte man, dass die DDR-Jugend sonntags wichtigeres zu tun
hat, als Beat-Musik zu hören.
Mit Aufkommen der ersten Diskotheken lief erstmals am 19.07.1973 immer
donnerstags innerhalb von Jugendstudio DT64 „Die Podium-Diskothek“ als
Mitschneideservice für Diskotheker.
Die Sendelisten sind bis 1989 vollständig in der Broschüre „In Sachen Disko“10
veröffentlicht und dienten als fundierte Quelle für die im Anhang befindliche
Titelliste des Ostrock.
Zusätzlich zu oben genannten Sendungen wurde Mitte der 1970er Jahre
wochentags von 15 bis 16 Uhr die Sendung „Duett - Musik für den Rekorder“
auf Berliner Rundfunk neu ins Programm aufgenommen.
Hier war ausnahmsweise mal 50:50 angesagt, denn es wurde jeweils eine Ost-
und eineWestband kurz porträtiert und gespielt.
Am 05.03.1976 kam mit der „Tipp-Disko“ jeweils freitags 20.05 Uhr die vierte
nationale Wertungssendung hinzu, in welcher 13 Ostrock-Titel platziert waren,
jedoch auch ein Beatles-Titel vernünftig mitgeschnitten werden konnte.
Insgesamt gesehen ging es also in den 1970er sowohl mengenmäßig als auch
qualitativ stark bergauf im Rundfunk der DDR. Rückblickend erscheinen mir
die Jahre ab 1971, in denen auch ungarische und polnische Bands präsent waren,
musikalisch interessanter und vielfältiger. Ende der 2. Hälfte der 1970er glaubte
man jedoch, auch ohne die „Brüder“ ganz gut zurecht zu kommen. Ab 1980 fand
Ostrock in den Medien nur noch national statt, was ich persönlich sehr schade
finde.
Da sich der Musikmarkt in den 1970ern international und auch national immer
mehr ausweitete, war das Mitschneiden vom Radio auf Tonband-Kassetten ein
zu teures Unterfangen geworden. Wer keine Westbeziehungen hatte, wo
Kassetten im 10er-Pack schon für 12 bis 15 DM zu haben waren, stieg
letztendlich doch auf das gute alte Spulentonband um.
Beliebt waren dabei tschechische Geräte der Firma Tesla. Mit einer großen
Bandspule (540 m) von ORWO konnte man bei normaler Bandgeschwindigkeit
(9,5 cm/sec) für 32 Mark drei Stunden Musik in Stereo aufnehmen, zahlte also
nur ein Drittel des Kassettenpreises.
Eine der informativsten Rock-Sendungen startete 1980 zu einer Sendezeit, die
der interessierten „werktätigen Bevölkerung“ einiges abverlangte: „Trend -
Forum populärer Musik“, sonntags ab 22 Uhr auf Berliner Rundfunk. Sie wird
in Götz Hintzes „Rocklexikon der DDR“ zurecht als „Flaggschiff des
Musikjournalismus der DDR“ 1 bezeichnet und behandelte ausführlich und
kritisch Trends der Musikentwicklung in Ost undWest.
Bis 1985 kamen in der DDR-Radiolandschaft keine neuen Jugendsendungen
mehr hinzu. Ab März 1986 jedoch hatte die „Kurbelei“ am Senderwahlknopf
meines Radios - Stationstasten wurden gerade eingeführt - endlich ein Ende:
Erstmalig und einmalig für den gesamten Ostblock wurden fast alle oben
genannten Sendungen und Redaktionen zu einem neuen Sender, dem
„Jugendradio DT64“ zusammengeschlossen.
Um ein anfangs 11-stündiges durchgehendes Programm zu gewährleisten,
wurden weitere neue Sendungen wie „Morgenrock“, „Für Euch nach zwei“,
„TonArt“, „Countrythek“ und andere ins Programm aufgenommen. Samstags
nachmittags wurden die neuesten Hits aus den amerikanischen und englischen
Charts vorgestellt und Platzierungen genannt.
Spätestens mit der Ausweitung auf ein 24-Stunden-Programm brachen für uns
Hörer paradiesische Zeiten an. Man muss sich das aus heutiger Sicht einfach
nochmal vor Augen halten: Keine Werbung, keine Verkehrsmeldungen, keine
vor Dummheit und Einfältigkeit strotzenden Zwischenmoderationen, keine von
der Musikindustrie vorgegebene und ins Rotationsprinzip gepresste
Musikauswahl!
Dafür gab es informative, gut recherchierte und locker vorgetragene
Textbeiträge und viel - nach heutigen Verhältnissen - unendlich viel Musik!
„Schon Monate vor der Wende erwiesen sich die Macher des Senders als
überaus kritisch und entwickelten sich zu einem akzeptierten Begleiter eines
nicht unerheblichen Teils der DDR-Jugend. Als 1991 der Sender zu Gunsten der
Frequenz von RIAS 1 abgeschaltet werden sollte, hagelte es Proteststürme der
Hörer, die in einem Sitzstreik vor dem Funkhaus in der Nalepastraße und
anderen Demonstrationen unter anderem in Dresden, endeten“1, schreibt Götz
Hintze. Genützt hat es nicht viel. Am 31.12.1991 wurde der DDR-Rundfunk
abgewickelt.
Damit verschwand der Ostrock fast komplett und endgültig aus der öffentlichen
Wahrnehmung. Zwar kann man im heutigen „Dudelradio“ hin und wieder mal
einen Osttitel der 1970er oder 1980er hören, die Auswahl beschränkt sich jedoch
gefühlt auf 20 bis maximal 30 Titel, sprich immer wieder dasselbe. Im
Gegenzug darf man dafür saftige Rundfunkgebühren berappen.
Dass da viel mehr war, zeigt meine im Anhang befindliche Titelliste mit
mehreren tausend Notierungen sowie die mit einem bis sechs Sterne
ausgewiesene - wenn auch subjektive - Auswahl von auch heute noch
hörenswerten Empfehlungen.
Kapitel 34
Sommer 1978 – Von Stars and Stripes und Gummiknüppeln
Wir waren eine Band – eine Band im ursprünglichen Sinne des Wortes: eine
Bande eben. Wir waren vier wirkliche Freunde und um unsere Band herum hatte
sich wiederum eine Gruppe Gleichaltriger und Gleichgesinnter geschart, die
sowohl Fans der Band als auch unsere eigenen Freunde waren.
Eine solche Gemeinschaft nannte man damals auch „Clique“, wobei dieser
Begriff Ende der 1970 noch positiv besetzt war. Wer zu unserer Clique gehören
durfte, wurde von uns allen gemeinsam, gewissermaßen aus dem Bauch heraus
entschieden. So hielten wir uns lästige Schmarotzer und Dummschwätzer vom
Leibe.
Wir hatten uns im Heuboden unseres Hauses einen großen Gemeinschaftsraum
eingerichtet, den wir „Club“ nannten und in welchem wir Feierlichkeiten wie
Geburtstage, Verlobungen oder Silvester durchführten. Zur Ausstattung unseres
Clubs zählten neben den üblichen Sitzgelegenheiten natürlich Poster, selbst
entworfene Wandbilder und Sprüche, die heute als Graffiti durchgehen würden
sowie ein altes Harmonium. Da wir über einen illegalen Stromanschluss
verfügten, konnten wir im Winter elektrisch heizen, die Verstärkeranlage
aufbauen oder einfach ungestört unsere Musik hören. Nein, wir brauchten
keinen von der staatlichen Jugendorganisation des FDJ geleiteten „Jugendclub“,
keine Wandzeitung, keine Ordnungsgruppe, keine politischen Schulungen… Wir
machten unser eigenes Ding.
Zu besten Zeiten gehörten unserer Clique 18 Leute an und wenn wir zweimal im
Jahr mit dem Zug zur Leipziger Messe fuhren, war da schon mal ein
Raucherabteil eines Wagons der Deutschen Reichsbahn komplett durch uns
belegt.
Natürlich hatte immer einer eine Gitarre dabei und so sangen wir zu
mitgebrachtem Bier und Wein nicht nur Songs aus dem Bandrepertoire, sondern
auch mal einen Titel von Heino oder Herbert Roth.
Pflichttermine auf der Leipziger Messe waren für uns Musiker die Stände der
westlichen Musikinstrumente-Hersteller im „Petershof“. Bei den Vorführungen
des Effekt-Geräte-Herstellers „Electro-Harmonics“ fielen einem fast die Ohren
ab, so schön waren die Gitarren-Sounds. Nur kaufen konnte man davon nichts.
Wir jedenfalls nicht, denn wir hatten keinWestgeld.
Dafür freuten wir uns „wie die Schneekönige“, als wir am Stand des Keybord-
Herstellers „Farfisa“ mehrere Poster des Yes-Keyboarders Rick Wakeman
geschenkt bekamen, welche wir stolz in unserem „Club“ neben das Melodie und
Rhythmus-Poster von Achim Menzel hängten. Vielleicht auch darüber, durchaus
möglich.
Im Sommer 1978 fuhren bzw. trampten wir zu sechst, d.h. in drei
Zweiergruppen getrennt über Berlin, Magdeburg und Dresden kommend
gemeinsam nach Bad Doberan. Nahe dem Ostseestrand von Heiligendamm
verbrachten wir dort bei bestemWetter einige wunderbare Urlaubstage.
Leicht getrübt wurde unsere Stimmung, als man uns in einer Freiluftdisko den
Eintritt verwehrte, da einer aus unserer Clique ein aus Ungarn mitgebrachtes T-
Shirt mit aufgedruckten Sternen und Streifen trug, welches angeblich die
amerikanische Flagge nachbildete. Im Jugendmagazin „neues leben“ war hierzu
sogar ein abfälliger Artikel erschienen. Schwer getrübt wurde jedoch unsere
Stimmung zu einem Open-Air-Rockkonzert auf einer Freilichtbühne in Rostock,
auf welcher als Topact City spielen sollte.
Wir waren von Bad Doberan aus mit dem Zug angereist und bezahlten am
Kassenhäuschen der Freilichtbühne das für Lehrlinge bzw. Schüler recht hohe
Eintrittsgeld von über 10 Mark. Während sich die Reihen langsam füllten, sahen
wir jedoch voller Erstaunen, dass die Techniker auf der Bühne die bereits
aufgebaute Anlage wieder abbauten. Die Musiker der beiden Vorbands waren
wenig später in ihre Autos gestiegen und losgefahren. Lediglich der LKW von
City stand noch am Bühnenrand und wurde eilig beladen.
Im Publikum ging das Gerücht um, dass ein Sommergewitter drohe und die
Veranstaltung ausfallen solle. Andererseits wurden aber am Kassenhäuschen
unvermindert Karten verkauft und Leute eingelassen. Das roch nach Betrug und
rief erst leisen, dann lauten Unmut beim Publikum hervor.
Einige mutige Fans hatten um dem City-LKW eine Sitzblockade gebildet und
die Luft aus den Reifen gelassen, um die Band an der Abfahrt zu hindern. Citys
Managerin Traudl Gogow sah dem Treiben hilflos zu.
Später wurden aus dem angrenzenden Park Äste und Holz herbeigeschafft und
auf der leeren Bühne ein Feuer entzündet. Das Kassenhäuschen war mittlerweile
geschlossen. Der Himmel hatte sich mit dicken Gewitterwolken verdunkelt und
die betrogenen Fans feierten nun ihre eigene Party, wenn auch nur für kurze
Zeit. Als die ersten Regentropfen fielen, traf auch schon die erste Hundertschaft
der sogenannten Volkspolizei ein. Sie bildeten eine Kette und wollten die
Massen von den Rängen her in Richtung Bühne drängen und einkesseln.
Sie schlugen mit gezückten Gummiknüppeln auf das flüchtende Publikum ein.
Zum Glück tat sich am linken Rand eine Lücke in der Polizeikette auf und so
gelang es uns – abgesehen von einem Nackenschlag, der unseren Bassisten traf
– unversehrt über die Ränge nach oben zu flüchten.
Mittlerweile war auf der rechten Bühnenseite die Feuerwehr eingetroffen und
hatte begonnen, das schöne Lagerfeuer mit Wasserwerfern zu löschen. In all der
Hektik hatten wir gar nicht bemerkt, dass der Himmel nun endgültig seine
Schleusen geöffnet hatte und ein Wolkenbruch erbarmungslos auf uns hernieder
prasselte.
Völlig durchnässt rannten wir zum Bahnhof und fuhren mit dem letzten
Abendzug nach Bad Doberan zurück. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass es
einige Verletzte und viele „Zuführungen“ gegeben haben soll. In allen Betrieben
und Einrichtungen des Bezirkes Rostock wurden Befragungen zwecks
Teilnahme an dieser „Veranstaltung“ durch die so genannten staatlichen Organe
durchgeführt und weitere Verhaftungen vorgenommen.
Was für ein Trauerspiel! Eigentlich waren wir alle nur gekommen, um Citys
Teufelsgeiger mit Am Fenster zu hören und bei rockigen Klängen abzufeiern.
Einzig die Verantwortlichen „unserer“ Jugendorganisation, die sich – wie zum
Hohn – auch noch Freie Deutsche Jugend nannte, hatte kläglich versagt.
Auszug aus Kapitel 39
„Es gibt Momente, da stellen sich dieWeichen…“
Im dritten Jahr ihres Bestehens hatte unsere „Amateur-Tanzmusik-Combo“ die
ersten Hürden zum ersehnten Erfolg genommen.Weitere Hürden würden folgen.
So war es für uns als 17- bzw. 18-jährige Schüler und Lehrlinge, ein schier
unlösbares Problem, unsere bescheidene Anlage zu irgendwelchen
Veranstaltungsorten zu transportieren. Keiner von uns hatte eine PKW-
Fahrerlaubnis, geschweige denn einen eigenen PKW, Anhänger oder gar einen
Kleintransporter. Das war in der Mangelwirtschaft, in der wir lebten, so etwas
wie Goldstaub.
So blieb uns also nichts anderes übrig, als die Hälfte unserer Gage
irgendwelchen gierigen Kleinunternehmern und Gütertaxifahrern zu überlassen.
Ein weiteres Problem war die Plakatierung. Es gab weder Kopierer, noch
genügend Papier. Zudem war es verboten, Plakate – selbst kleine Zettel – an
öffentlichen Plätzen anzubringen.
Da der Staat für sämtliche Druckerzeugnisse das Monopol hatte, musste man
also eine Druckgenehmigung beantragen. Selbst wenn man eine hatte, dauerte es
oft noch Monate bis man die begehrten Plakate oder gar Hochglanzposter sein
Eigen nennen konnte.
Noch schlimmer sah es auf dem Gebiet der Beschaffung von Musikinstrumenten
und Beschallungstechnik aus. Das, was im staatlichen Handel angeboten wurde,
war entweder technisch veraltet, störungsanfällig oder klang einfach nicht so,
wie man es von Aufnahmen aus dem Radio gewohnt war. Vor allem das
Publikum erwartete aber, dass die Musik, die von der Bühne kam, so
originalgetreu wie möglich klang. Dies war auch der Grund dafür, dass sich in
der zweiten Hälfte der 70er Jahre immer mehr mobile Diskotheken fast
seuchenartig ausbreiteten und den Livebands einen großen Teil des Publikums
abspenstig machten. Wenn Udo Lindenberg in seinem Song Boogie-Woogie-
Mädchen singt:
„Ich hoffe, du gehörst jetzt nicht schon zu den Leuten, die nicht mehr zu den
Bands hingehen…,“ trifft das den Nagel auf den Kopf.
Trotz all der Widrigkeiten gaben wir vier jedoch nicht auf. Sicher wäre es eine
Alternative gewesen, in eine bereits bestehende, etablierte Band als junger
Spritzer einzusteigen. Doch das kam für uns nicht in Frage.
Wir waren Kumpels, echte Freunde, wollten „unsere“ Musik machen und nicht
mit irgendwelchen „alten Säcken“ abhängen.
Zudem lebten wir in der Provinz, im Wald, auf dem Dorf. Wirklich gute Bands
kamen aus Leipzig, Dresden oder Berlin, was für uns so weit weg war, wie der
Mond.
Um unsere musikalischen und instrumentalen Fähigkeiten zu verbessern, hatten
wir uns in der nahe gelegenen Musikschule in Aue in den Fächern Gitarre bzw.
Schlagzeug eingeschrieben und trafen dort glücklicherweise auf Lehrer, die
selbst im Musikbetrieb der Endsechziger und Siebziger Jahre als sogenannte
„Amateure“ tätig waren und uns nicht nur das stupide Spielen nach Noten,
sondern auch Tipps für den Umgang mit Veranstaltern, Publikum und den
„staatlichen Organen“ geben konnten.
Im letzten Jahr des Bestehens unserer kleinen Band stellte sich für jeden von uns
zumindest theoretisch die Frage, ob man denn in diesem Land seinen
Lebensunterhalt als Rockmusiker bestreiten konnte. Die Antwort auf diese Frage
kam den bekanntenWitzen zum Thema „Frage an Radio Jerewan“ gleich:
Im Prinzip ja, aber…denn nichts in diesem Lande ging ohne den Staat, ohne
Kontrolle. Für alles – ausnahmslos alles – war eine Genehmigung, Ausbildung
oder Prüfung erforderlich.
Um in den Besitz der begehrten „Profi-Pappe“ zu gelangen, gab es im Prinzip
zweiWege:
a) ein Direktstudium an einer Musikhochschule, der eine Aufnahmeprüfung und
eine mindestens fünfjährige Klavierausbildung vorausgegangen sein musste
oder
b ) eine nebenbe rufliche , ca. fünfjährige Ausbildung an einem
Musikkonservatorium mit Abschlüssen in den Fächern Musiktheorie,
Musikgeschichte, Notenlehre und dem entsprechenden Hauptfach.
Natürlich setzte die Obrigkeit voraus, dass man nicht durch irgendwelches
Fehlverhalten in der Öffentlichkeit auffiel, was eine Exmatrikulation nach sich
zog.
Wer sich voll und ganz seiner geliebten Kunst hingab und nicht in Besitz der o.g.
„Profi-Pappe“ war, somit also kein geregeltes Einkommen hatte, konnte
wegen asozialem Verhalten sogar inhaftiert werden. Per Gesetz gab es nicht nur
ein Recht, sondern auch eine Pflicht zur Arbeit. Und was Arbeit war, bestimmte
der Staat.
Doch auf solche Gedanken konnten wir in unserer kleinen Band gar nicht erst
kommen.
Denn beginnend im November 1978 wurden alle Bandmitglieder in Abständen
von jeweils sechs bis zwölf Monaten nach und nach zur Armee eingezogen…..
Auszug aus Kapitel 42
„Albatros“ – Der Überflieger
Textlich wird hier der Freiheitsgedanke mit Hilfe des Gleichnisses des
Herrschers der Lüfte, der keine Grenzen kennt, dem Stürme und raue Gewalt
nichts anhaben können auf eine völlig neue, höhere Stufe gestellt.
Während Renft von profaner Republikflucht und Lift vom Traum des Fliegens
in warme Gefilde sangen, macht Norbert Kaiser uns allen mit seinen poetischen,
bildhaften Worten klar, dass Freiheit zu den Grundrechten der Menschen gehört
und der Kampf darum – trotz Schlösser, Riegel, Fesseln und Ketten, trotz
Wolkenwänden und Blitzen – zum Erfolg führen kann, ja führen wird. Die
friedliche Revolution vom Herbst 1989 hat es ja bekanntlicherweise bewiesen.
Nun sind gute Texte aus dem Land der Dichter und Denker ja nicht unbedingt
eine Seltenheit. Leider haben wir oft genug erlebt, dass diese dann musikalisch
nur ungenügend umgesetzt wurden. Nicht jedoch hier. Nicht bei Ulrich Swillms.
Dem ganzen Stück wohnt eine perfekte Dramaturgie inne.
Die Ruhe der ersten Strophe steigert sich mit der Dramatik der Worte zu einem
ersten Höhenpunkt genau an der richtigen Stelle, wenn Dreilich von krachenden
Stürmen und wenig später dann vom ungeheuren Aufstieg zur Freiheit der
Meere singt.
Begleitet wird die Band von einer Streichergruppe. Wie ich finde, ist das eine
gute Wahl. Ein komplettes Orchester hätte vielleicht alles „zugekleistert“ und
dem Stück trotz seiner Dramatik die Transparenz genommen. So bleibt in
Strophe zwei das rockige Element erhalten. Bass und Gitarre spielen unisono
und Schlagzeuger Michael Schwandt darf sich an seinen zahllosen Becken und
Toms völlig ausleben und veredelt den Song mit phantasievollen Einlagen.
Mit einem Gong-Schlag geht der Titel nach 3:45 Minuten in einen zunächst
ruhigen Instrumentalteil über. Schließt man jetzt die Augen, beginnt sofort ein
Film im Kopf zu laufen: ruhige See, endlose Weite, ein Gefühl, als schwebte
man selbst davon. Man lauscht Bernd Römers clean gespielter Gitarre, hört
Michael Schwandts eingestreute 16tel-Triolen und leise Streicher. Dann, bei
4:50 Minuten übernehmen die Keyboards das Gitarrenthema und beginnen mit
dem Bass ein Frage-Antwort-Spiel, worauf wenig später die lauter werdende
Streichergruppe die Keyboards überlagert und sich bei 5:10 Minuten in derartige
Höhen hinaufwindet, dass mir jedes Mal ganz schwindelig wird.
Die Harmonien erzeugen in mir an dieser Stelle des Titels ein Gefühl, welches
man als eine Mischung aus Sehnsucht, Wehmut und Trauer beschreiben kann.
Ein wirklicher Gänsehaut-Moment.
Die nun einsetzende Oboe verstärkt das Gefühl des Sehnens noch einmal, ehe
dann die darauf folgenden Stakati das Stück zum Höhepunkt führen und
treffsicher den Kampf zwischen Gut und Böse charakterisieren.
Obwohl Herbert Dreilich in der darauffolgenden dritten Strophe nochmals
diesen Kampf mit denWorten:
„Und türmen sich Wände
Und greifen ihn Zwingen aus Wolken wie Blei
Und schlagen die Blitze
Er kämpft mit den Schwingen das Hindernis frei
Er findet den Weg auch im Orkan“
beschreibt, wurde das Gleiche im vorangegangen Instrumentalteil musikalisch
eigentlich bereits gesagt. Wirkliche Gewissheit des Sieges des Guten über das
Böse geben uns mit derWiederholung des Refrains nicht nur dieWorte:
„Dann fliegt er mit Feuer
Und steigt ungeheuer zur Freiheit der Meere“.
sondern auch deren nochmals um die Streichergruppe verstärkte musikalische
Umsetzung.
Ein Gong-Schlag und ein fast einminütiges Fadeout mit dem bereits eingangs
verwendeten Synthie-Blubbern knipsen erneut das Kopfkino an und lassen den
Albatros in weite Ferne davonschweben.
Spannung und Erregtheit sind in Freude und Ergriffenheit übergegangen.
Eigentlich möchte man aufstehen, jubeln, rufen, in die Hände klatschen…die
Welt umarmen…
Auch heute mehr als 40 Jahre nach Veröffentlichung, berührt und ergreift mich
Karats Albatros noch immer. Er ist und bleibt meine persönliche Nummer 1 des
Ostrock!
Kapitel 56
„Goldener Rathausmann 1988“ oder Casting in der DDR
Auf Anraten meiner Zwickauer Gesangslehrerin bewarb ich mich zur Teilnahme
am nationalen Nachwuchsfestival „Goldener Rathausmann“, welches seit 1978
parallel zum Internationalen Schlagerfestival in Dresden durchgeführt wurde.
Das Reglement schrieb vor, dass jeder der 14 Bezirke der DDR pro Jahr
maximal zwei Nachwuchskünstler dorthin entsenden konnte. Verantwortlich für
d ie Au swah l wa ren som i t d ie jewe i l igen „Komm i s s ionen fü r
Unterhaltungskunst“ der Bezirke und in meinem Fall eine Hand voll mir
unbekannte hauptamtlich tätige Kultur-Funktionäre des Bezirkes Karl-Marx-
Stadt.
Im 88er Jahrgang hatten sich aus meinem Bezirk 32 hoffnungsvolle Talente
beworben. Alle erhielten einen sogenannten Fördervertrag für die neunmonatige
Vorbereitungszeit, der jedoch bei unzureichender künstlerischer Gesamtleistung
sofort kündbar war. So fuhr ich also im zwei-Wochen-Rhythmus, jeweils
samstags, zu einem mir zugewiesenen Gesangspädagogen und arbeitete mit ihm
zunächst an der Auswahl der Titel.
Das Reglement des Festivals sah außerdem vor, das ein Ost- und ein Westtitel
zum Vortrag gebracht werden durfte. Letztlich entschieden wir uns für zwei
deutschsprachige Songs, wobei der Osttitel eine Komposition unseres
Gitarristen Thomas, welche ein wenig an Kyrialesum von Mr. Mister erinnerte
und einen Text aus meiner Feder enthielt und der Westtitel Rio Reisers
wunderschöne Ballade Für immer und Dich war. Beide Songs lagen mir und ich
legte mich mächtig ins Zeug. Von Termin zu Termin bangte ich, dass mir mein
Mentor mitteilen würde, dass ich nicht mehr wiederkommen brauchte, also
ausgeschieden war. Nach ca. 4 Monaten teilte er mir dann endlich mit, dass 30
der 32 Bewerber bereits ausgeschieden seien und man nun mit den beiden
verbleibenden Kandidaten intensiv weiterarbeiten wolle. So also lief Casting in
der DDR.
Der zweite verbleibende „Kandidat“ war eine junge Frau aus dem Vogtland, die
verblüffend gut die damals schwer angesagte Jennifer Rush singen konnte. Nun
wurden für uns beide Halb-Playback-Aufnahmen im Studio des dialog-
Keyboarder produziert, ein wenig Bühnenbewegung probiert und intensiv an
den Stimmen gearbeitet.
Dann kam der Tag der Vorentscheidung. An einem Samstagvormittag gegen 10
Uhr (!) durften wir einer sechsköpfigen Kommission in eigener
Bühnengarderobe unsere jeweiligen zwei Titel gewissermaßen „aus der Kalten
heraus“ und natürlich ohne Publikum zu dieser Unzeit darbieten. Dann durften
wir den Raum verlassen und auf dem Flur auf die Entscheidung der
Kommission warten.
Wir warteten lange, sehr lange, fast zwei Stunden und als wir gemeinsam
hineingerufen wurden, teilte die uns die Vorsitzende der Kommission in knappen
Worten mit, dass „die künstlerische Gesamtleistung“ nicht ausreichend sei und
der Bezirk Karl-Marx-Stadt in diesem Jahr, wie auch im Vorjahr niemand nach
Dresden schicken wolle. Dann durften wir „wegtreten“.
Jennifer aus Netzschkau brach in Tränen aus, Rio aus dem Erzgebirge wendete
sich der Magen um.Wenig später saßen wir in meinem Trabi und versuchten uns
auf der Heimfahrt gegenseitig zu trösten und Mut zu machen. Am Abend des
Tages stand ich zusammen mit meiner Band „Amadeus“ auf der Bühne
irgendeines Dorfsaals und sang voller Inbrunst die Zeilen meines Rathausmann-
Songs:
„…und schon fühlst du, wie es endet
ganz allein gehst du nach Haus
manchmal Selbstmitleid und Tränen
eh´es los ging, wars schon aus
Und wieder suchst du nach Liebe
Und wieder geht sie vorbei
Dein Herz zerbricht wie ein Spiegel
Alles vorbei, alles vorbei, alles vorbei?“
Auszug Kapitel 60
Der Ostrock ist tot! – Es lebe der Ostrock!
Reden wir also über Renft, Puhdys und City. Glaubt man den Schilderungen der
zahlreich erschienen Literatur über Klaus Renft und dessen Combo, drängt sich
der Eindruck auf, als sei die Band bis zu ihrem Verbot 1975, aber auch nach
ihrem Neustart eine echte Chaotentruppe gewesen. Alkohol, organisatorische
Missstände, verletzte Eitelkeiten, Streit um Kohle, Streit um die musikalische
Ausrichtung und vieles anderes mehr. So drehte sich das Personenkarussell nach
1990 recht heftig. Zeitweise tourten sogar zwei verschiedene Renft-Bands durch
die Lande. Doch bleiben wir bei den Fakten:
Ex-Thomaner und Keyboarder Christian Kunert, der zusammen mit Gerulf
Pannach im Westen recht erfolgreich Folk und Blues spielte, blieb der Band bis
Pannachs Tod 1998 fern. Auch Gitarrist Cäsar steigt nicht wieder ein. Der macht
mit seiner eigenen Band unter verschiedenen Namen weiter und veröffentlichte
neben zahlreichen Remakes und Best-Of-Platten drei wirklich neue CDs mit
Texten von Gerulf Pannach, Alfred Rösler (City) und anderen: „Cäsar“ (1995),
„Die Zweite“ (1996) und „Zeitlos“ (2005).
Während der „Als-ob-nichts gewesen wär-Tour“ 1997/98 steht Cäsar dann auch
nochmals zusammen mit den Renft-Musikern Christian Kunert, Jochen Hohl,
Klaus Renft sowie Christiane Ufholz und Gerulf Pannach auf der Bühne. Er
verstirbt am 23.10.2008 an Krebs und wird auf dem Leipziger Südfriedhof
beerdigt. Einen repräsentativen Querschnitt seines vierzigjährigen Schaffens
bietet die CD „Wer die Rose ehrt“, auf welcher auch die hervorragenden
Nachwendesongs Geht es dir gut? und Kain ist tot enthalten sind.
Auf der 1990er Reunion-CD der Klaus Renft Combo „live“ sind neben den 75er
Originalmitgliedern Renft, Schoppe, Kschentz und Hohl noch Jürgen Heinrich
von SET (für Cäsar) und Robert Hoffmann (für Kunert) zu hören. Die CD
enthält auch den verbotenen Republikflucht-Song Rockballade vom kleinen
Otto. In der Folgezeit steigen dann Heinz Prüfer (ehemals Joco-Dev, Express
und Reggae Play) an der Gitarre und Detlev Kriese am Schlagzeug für Heinrich
und Hohl ein.
Auf der 96er CD „Live in Konzert“ sind dann die neuen Titel Die Flut und Der
Bauch (beide Schoppe) sowie Raucher Blues, Autofahrer und Wo bin ich hier
(Kschentz) zu hören.
1999, also 24 Jahre nach dem berüchtigten Renft-Verbot erscheint dann endlich
eine komplett neue Studioproduktion. Auf dem Cover: Büchsenbier,
Musikerhände, eine Schachtel F6, ein voller Aschenbecher…Christian Kuhnert
ist wieder mit an Bord und liefert einen Großteil der Kompositionen und Texte.
Thomas Schoppe fehlt. Der tourt als „Monsters Renft“ mit anderen Mitstreitern
durch die Lande.
Trotz allen Wohlwollens kommt die CD recht skurril und uninspiriert rüber und
man darf sich schon mal fragen: Wo ist das Rebellische, das Unangepasste der
„alten“ Klaus-Renft-Combo geblieben? Chance vertan!
Die in den Jahren 2001 bis 2007 eingespielte und im Januar 2008 erscheinende
letzte Renft-CD „Abschied und Weitergehen“ entstand, wie auch ihr Vorgänger
in gleicher Besetzung, wobei Marcus Schloussen (u.a. Reform) mehr und mehr
den Bass des schwer erkrankten Bandgründers Klaus Renft übernahm.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren bereits drei Bandmitglieder vom
„Sensenmann“ geholt worden: Bandgründer Klaus Renft (gestorben
09.10.2006), Multiinstrumentalist Peter Kschentz (gestorben 18.09.2005) und
der 1991 hinzugekommene Gitarrist Heinz Prüfer (gestorben 18.03.2007).
Keyboarder Christian Kuhnert erlitt einen Hörsturz und so kam es, dass mit
Thomas Schoppes Rückkehr und einzig verbliebenem Original-Mitglied der
Fortbestand der Band als „Viererbande“ gesichert war. Für Prüfer stieß Pitti
Piatkowski (ehemals Magdeburg, City, NO55) als zweite tragende Säule zur
Band und so dürfen wir das ostdeutsche Urgestein Renft auch heute noch live
und voller Spielfreude bewundern. 2018 feierte die Band 50-jähriges Bestehen,
damit haben sie nicht nur die Rolling Stones überholt, sondern auch die Puhdys
überlebt…
Auszug aus Anhang 1 -Auswertung der DDR- Jahrescharts 1975 – 1990
Unterzieht man die Top 50 der Jahre 1975 bis 1990 einer statistischen
Auswertung, sind darin insgesamt 755 Titel gelistet. Fügt man die Künstler bzw.
Bands Wolfgang Ziegler & Wir, Reinhard Lackomy & Angelika Mann, Dieter
Birr & Maschine und Männer sowie die Klosterbrüder & Magdeburg zu je
einem Künstler zusammen, werden insgesamt 148 verschiedene Künstler
genannt. Davon gehören 23 dem Genre Schlager/Ulk und lediglich 9 weitere
Künstler den Bruderländern an.
Interessant ist natürlich die Frage, welche Band nach der Meinung der
Hörerschaft wohl die erfolgreichste war. War es City, Stern Meißen, die Puhdys,
Karat oder gar Silly?
Da nur die Zeit ab 1975 bewertet werden kann, fallen allerdings Künstler wie
Panta Rhei, Renft oder Nina Hagen schon mal aus der Wertung, denn die
existierten zu o. g. Zeitpunkt bereits nicht mehr bzw. wurden kurz darauf
verboten. Des Weiteren fällt auf, dass 62 der 148 gelisteten Künstler mit nur
einem Titel, also als „Eintagsfliegen“ genannt sind, wobei dieser Begriff
vielleicht auf Dean Read, jedoch wohl kaum auf Hansi Biebl zutreffen dürfte.
Der hatte immerhin 2 LPs veröffentlichen dürfen. Sein Allzeit-Klassiker Es gibt
Momente wird gar nicht genannt.
Auch Omega und LGT müssen sich mit lediglich 2 Nennungen begnügen. Ein
ähnliches Schicksal widerfährt auch Jürgen Kerth mit nur 3 Nennungen.
Andererseits erhält Eberhard Aurichs – Entschuldigung Emmys Band dialog aus
Crimmitschau – gleich mal 19 Nennungen und zieht damit mit Veronika Fischer
& Band zahlenmäßig gleich. Bemerkenswert ist, dass gerade Veronika Fischer,
trotz nur 5-jähriger Präsenz, mit diesen 19 Titeln insgesamt 632 Punkte erhält
und in der Endauswertung immerhin auf Platz 8 kommt. Oder anders gefragt:
Wo wäre sie gelandet, wenn sie hier geblieben wäre?
Wie absurd eine Wertung nach der Anzahl der platzierten Titel ist, sehen wir
auch an den Beispielen der Bands Prinzips mit 27 Nennungen, Berluc mit 29
Nennungen oder unserer Pseudo-Prog-Rocker electra mit 31 Nennungen. Masse
statt Klasse!
Eine solche Betrachtung würde außerdem noch dazu führen, dass Top-Bands der
1980er Jahre wie Silly, Rockhaus und Pankow außerhalb der Top 10 – also
„unter ferner liefen“ – liegen. Somit bleibt uns also nur noch eine Bewertung
nach Punkten, um ein halbwegs realistisches Bild der „definitiven Ost-Rock-
Charts“ zu zeichnen. Immerhin wird darin dann auch der jahresübergreifende
Aspekt mit berücksichtigt.
………
© Frank Flemming für ostmusik.de 2022