Polnischer Jazz von je her unabhängig, expressiv und wegweisend
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Thomas Behlert mit freundlicher Genehmigung
In der Zeit, in der ich noch regelmäßig die Stadtbibliothek besuchte, gab es im
Nebengebäude Tonträger aller Art, also Langspielplatten und Tonbandkassetten,
zum Ausleihen. Man stellte sich mit den Bibliotheksmitarbeiterinnen gut und bekam
so auch mal ganz frisch eingetroffene Lizenzplatten. Da jeder Bibo-Benutzer bis zu
drei LPs mitnehmen konnte, griff man auch zu Originalen aus der Polnischen oder
der Ungarischen VR, denn der musikalische Horizont wollte erweitert werden. Zu
Anfang sagten einem die Namen der Künstler nichts, war dann über die
musikalische Vielfalt in den Nachbarländern umso mehr überrascht.
Aus Polen lernte man SBB und vor allem die Aufnahmen von Czeslaw Niemen kennen.
Hier riss ein Künstler die Grenzen nieder, die bisher zwischen Klassik und Rock
existierten, präsentierte mit der Orgel einen eigenwilligen Stil und ließ auch den Jazz
in seinem Mix vorkommen. Letztere Musik packte mich ganz gewaltig, zumal in der
Musik-Bibo speziell die Reihe „Polish Jazz“ vom Label Polskie Nagrania Muza
auslag.
Was konnten Jazz-Fans da zum ersten Mal hören: verrückter Jazz von Krzysztof Zgraja,
Kuriak Goes Funky, fröhliche Dixielandtöne von den Old Timers, die gemeinsam mit
Sandy Brown musizierten, die Stodola Big Band und das Jazz Band Ball Orchestra mit alten
neuen Klängen. Es drang an die Ohren, was bisher nie eine Rolle in meinem musikalischen
Leben spielte: Funk, Free Jazz, ein hervorragende Mischung aus festem Rock und
überschwänglichen Jazz, Modern Jazz und verdammt saubere Oldtime-Melodien.
Nun feiert das polnische Label 55. Jubiläum, leider erst einmal nicht mit Live-Veranstaltungen,
sondern mit vielen Wiederveröffentlichungen und neuen Aufnahmen der jungen polnischen
Jazz-Generation.
Polen nimmt eine Sonderstellung im europäischen Jazzgeschehen ein, denn schon
früh gehörte die Musik zu einem wichtigen Teil der kulturellen Identität. Musiker
untermalten in den 1920er Jahren viele polnische Filme mit Jazztönen, verbanden
polnische Klassik mit typischer Folklore, jiddischer Musik und den Klängen
amerikanischer Vorbilder.
Nach der deutschen Besatzung und Stalinismus knüpften die Jazzer Polens ab 1956 wieder an
die nie vergessene Tradition an. In den 1960er Jahren machten vor allem einzelne Interpreten
auf sich aufmerksam, wie der Posaunist Andrzej Kurylewicz, der Pianist Krzysztof Komeda,
der besonders durch verschiedene Hollywood-Soundtracks international bekannt wurde.
Eine neue Stufe erreichte der polnische Jazz in den 1980er Jahren mit Richtungswechsel und
politischem Wirken, als nämlich verschiedene Bands (Allstar Big Band Young Power)
die Aufstände in der Danziger Werft zum Thema machten. Hier klang es
kompromisslos, frei und modern.
Immer mit dabei die Reihe „Polish Jazz“, die von der staatlichen Plattenfirma mit viel Enthusiasmus
entwickelt wurde. Zum 55. Jubiläum wird die Reihe von Warner Music reaktiviert und auch
für deutsche Jazzfans zugänglich gemacht.
Unsterblich ist dabei das wegweisende „Astigmatic“ (1965) vom Krzysztof Komeda Quintett,
das mit Bläsern überrascht und den polnischen Jazz schnell in der Welt bekannt machte.
Komeda entwickelte später Soundtracks für seinen Landsmann Roman Polanski, wie
„Tanz der Vampire“ und „Rosmarys Baby“.
Weiter geht es mit Tomasz Stanko (1971), der mit dem Album „K“ an den 1969 verstorbenen
Komeda erinnert, wobei er Free Jazz mit slawischer Folklore verbindet.
Sein 1982 veröffentlichtes Werk „Music `81“ zeigt dann einen ganz neuen Weg, der mit expressivem
Free Jazz und treibendem Funk gepflastert ist.
Wichtig auch das Jazzrock Album „Kujawiak Goes Funky“, das es locker mit dem
Mahavishnu Orchestra und Chick Coreas Return To Forever aufnimmt, sogar eine doppelte Saxofonfront
präsentiert, einprägsame Melodien vorstellt und vor allem die polnische Folklore nicht vergisst.
Hypnotischer Space Jazz ist bei Michal Urbaniaks „In Concert“ (1973) zu hören.
Diese Musik ist so unvergänglich, dass ihn sogar Miles Davis 13 Jahre später für sein Album „Tutu“
anheuerte.
Neben den Klassikern des polnischen Jazz erscheinen nun auch neuere Aufnahmen, die von alten
Haudegen, wie dem 85-jährigen Saxofonisten Jan „Ptaszyn“ Wroblewski und Zbigniew Namyslowski
stammen.
Mit jungen Talenten wird die legendäre Reihe fortgesetzt. Sie geben dem polnischen Jazz neue Ideen
mit und halten ihn in Bewegung. So zeigen der Schlagzeuger Maciej Golyzniak und Flügelhornist
Lukasz Korybalski auf ihrem 2020er Album „The Orchid“ auf, dass im polnischen Jazz bis heute der
Drang nach Unabhängigkeit an erster Stelle steht und mit spielerischem Übermut und ungewöhnliche
Klängen einhergehen.
Info: Serie Polish Jazz, u.a. mit Jan Wroblewski, Tomasz Stanko, Zbigniew Namyslowski, Komeda,
Michal Urbaniak (Polskie Nagrania Muza/ Warner Music)